
Die Seite gewechselt
Die Medizinalprodukte-Branche kennt Iris Neelen von zwei Seiten. Heute ist sie Einkäuferin bei Promedical in Glarus, Anbieterin von Sets und Verbrauchsgütern.
Zu ihrem Job kam Iris Neelen sprichwörtlich wie die Jungfrau zum Kind: Als gelernte Pflegefachfrau – zu ihrer Zeit noch Krankenschwester – mit Zusatzausbildung auf der Intensivstation kennt sie die Welt der Spitäler von der Pike auf. Sie weiss sehr genau, welche Geräte und Materialien dort täglich in welchen Mengen gebraucht werden. Aus gesundheitlichen Gründen war es Iris Neelen vor ein paar Jahren jedoch nicht mehr möglich, der anspruchsvollen Tätigkeit als Pflegefachfrau auf der Intensivstation nachzugehen. So war es ein Glücksfall, dass ihr damaliger Arbeitgeber ihr 2008 einen neuen Job im Einkauf anbot. Parallel besuchte sie verschiedene Weiterbildungen zum Thema Spitaleinkauf und hängte 2010 die Weiterbildung zur diplomierten Einkaufsleiterin bei Procurement an. «Ich habe nie die Branche gewechselt, nur die Seiten», erklärt Iris Neelen. Auf mögliche Gemeinsamkeiten zwischen der Tätigkeit in der Intensivpflege und im Einkauf für Spitalgüter angesprochen, entgegnet sie: «Der grösste Unterschied ist, dass niemand stirbt, wenn ich einen Fehler mache. Auf der Intensivstation wäre das möglich gewesen.» Gemeinsam ist den beiden Tätigkeiten, dass es um ganz unterschiedliche Produkte geht, mit denen die Stationen und Intensivstationen von Krankenhäusern ausgestattet sind, darunter einfache, alltägliche, wie auch sehr teure und aufwendige: von simplen Tupfern und Skalpellen über Verbandsmaterial und Abdeckungsfolien und Mäntel für Operationen bis zu Dialyse- und Beatmungsgeräten für die Intensivstationen – wie sie in den letzten Jahren oft auf Bildern in der TV-Berichterstattung zu sehen waren.
Flexibel bleiben
Seit 2019 arbeitet Iris Neelen als Einkäuferin bei einem ihrer früheren Lieferanten, Promedical in Glarus, der zu den führenden Medizinalprodukte-Herstellern der Schweiz gehört. Seit 2022 ist sie als Head of Procurement für den gesamten Einkauf verantwortlich. Ein Vorteil ihrer grossen Erfahrung ist, dass sie weiss, was die Folgen sind, wenn ein Teil der Ausrüstung fehlt. Wenn es darum geht, Sortimente zu straffen, wirft sie deshalb jeweils die Frage auf, ob dieser Schritt wirklich nötig sei. Ein grosser Unterschied besteht gemäss Iris Neelen, wenn es darum geht, den Stresslevel des früheren und des heutigen Jobs zu vergleichen: Auf der Intensivstation musste sie abends häufig länger bleiben, wenn Kolleginnen und Kollegen ausfielen, weil sie sich immer verantwortlich fühlte. Heute im Einkauf kann sie um 17 oder 18 Uhr Feierabend machen. Dafür halten sie andere Herausforderungen auf Trab: Zum Beispiel die Probleme rund um die Lieferketten seit den letzten beiden Jahren. Wenn in Wuhan gerade wieder ein Lockdown herrscht, die Leute nicht ins Büro können und Produktionsstätten stillstehen. Oder wenn die Lieferfrist eines Containers acht Monate dauert statt der geplanten sechs – nicht wegen mangelnder Produktionskapazitäten, sondern weil der Lieferweg ungewöhnlich lang ist oder ein Zug unerwartet ausfällt. «Als Einkäuferin sind mir da die Hände gebunden», beschreibt Iris Neelen die Situation. Umso wichtiger ist es, genügend Ersatzmaterialien zu produzieren oder an Lager zu haben. Bis jetzt konnten sie die Lieferketten stets aufrechterhalten und auf einen gut aufgebauten Stock zurückgreifen. Dennoch gilt es, weiterhin gewappnet zu sein. Eine Möglichkeit wäre es, mehr in Europa als in China einzukaufen, aber das ist gemäss Neelen «immer eine Frage des Preises». Der Vorteil davon wäre jedoch, dass sie innerhalb Europas in kleineren Mengen einkaufen könnte, weil die Lieferfristen kürzer sind und die erforderlichen Lager deshalb weniger gross sein müssen. Obwohl Iris Neelen Einkaufsleiterin ist, beschäftigt sie sich derzeit täglich mit Fragen des operativen Geschäfts, wo sie den Überblick über Lieferungen, Bestellungen und Container behalten muss. Der Grund: Sie erledigt zusätzlich zu ihren Aufgaben auch die Arbeit einer operativen Einkäuferin, deren Position im Augenblick vakant ist. Ausserdem ist sie daran, die logistischen Prozesse zu analysieren und zusätzliche Lieferanten aufzuspüren – als Alternativen, um die Lieferketten auf jeden Fall aufrechtzuerhalten. Schon jetzt zählt Promedical neben Lieferanten aus China auch auf Anbieter in Europa, zum Beispiel Portugal, wo Einweg-Nieren- und Rundschalen hergestellt werden.
Zertifikate sind ein Muss
Da sich Promedical auf das Kerngeschäft der Medizinalsets mit bis zu fünfzig Produkten konzentriert, ist die Warenpalette sehr breit. Darunter gibt es auch Produkttypen, die als reine Handelsware eingekauft und verkauft werden, zum Beispiel einzelne sterile Nierenschalen oder Kompressen. «Die Sortimentsgestaltung ist über die Kunden gesteuert», sagt Iris Neelen. In enger Zusammenarbeit mit der Verkaufsabteilung hat sie vor kurzem neue Artikel für den Schweizer Markt aufgenommen: Es sind sterile Tücher für die Radiologie, die Patientinnen und Ärzte vor Strahlungen schützen. Egal welches Produkt – es muss stets hohen qualitativen Anforderungen genügen, ISO-zertifiziert sein und die Medizinprodukteverordnung einhalten. Selbst die Lieferanten müssen zertifiziert sein, um die hohen Auflagen zu erfüllen. Zum Ausgleich des strengen Arbeitstages geht Iris Neelen mit ihrem Mann, einem «semiprofessionellen Hobby-Ornithologen», oft in der Natur wandern und Vögel beobachten. Während der vergangenen Pandemiezeiten hat sie neben dem Steckenpferd Fotografieren ein neues Hobby entdeckt, das ihr grossen Spass macht: Sie zeichnet und malt Aquarelle nach der Happy-Painting-Methode. Das findet sie nicht nur sehr entspannend, sondern es verhilft ihr am Feierabend auch zu einer neuen Perspektive: Sie kann ihre innere Perfektionistin vergessen.
(aus: Handelszeitung Nr. 38 | 22. September 2022 / Susanne Wagner)